Ab dem 28. Juni 2025 müssen auch gewerbliche Websites barrierefrei sein. Die Zeit wird knapp – und das nutzen Anbieter von Accessibility-Overlay-Lösungen gerade aus, versprechen sie doch, eine Website ganz schnell und einfach BFSGV-konform zu machen. Wer sich darauf verlässt, hat ein Problem: Overlays machen eine Website nicht barrierefrei und erfüllen auch die gesetzlichen Vorgaben für Barrierefreiheit nicht. Das hat Ausschuss für barrierefreie Informationstechnik vor kurzem bekräftigt.
Damit schließt sich der Ausschuss der bisherigen Einschätzung der Überwachungsstellen des Bundes und der Länder für die Barrierefreiheit von Informationstechnik an: Demnach sind Overlay-Tools nicht in der Lage, eine Website barrierefrei zu machen. Schlimmstenfalls bauen sie zusätzliche Barrieren auf. Sie sind allenfalls geeignet, eine schon vorhandene Barrierefreiheit zu verbessern, um so die Konformitätsstufe von Level AA auf AAA zu heben.
Angesichts aktueller Entwicklungen wie dem KI-Einsatz für Barrierefreiheit haben die Überwachungsstellen ihre gemeinsame Einschätzung im März 2025 aktualisiert; der Grundtenor blieb jedoch gleich. Der Ausschuss für barrierefreie Informationstechnik hat sich zusätzlich zu Wort gemeldet, weil öffentliche Stellen immer noch versuchen, den Weg zur Barrierefreiheit mit Tools wie Eye-Able oder EqualWeb abzukürzen. Deshalb wies der Ausschuss ausdrücklich darauf hin, dass dies weder die EU-Richtlinien noch die deutschen Vorschriften erfüllt:
„Auch aus Sicht des Ausschusses genügt eine nachträglich durch eine Software, gegebenenfalls erst nach Vornehmen von Einstellungen durch nutzende Personen, temporäre barrierefreie Darstellung eines Webauftrittes für die Dauer ihrer Nutzung nicht den Anforderungen der vorgenannten gesetzlichen Vorschriften.“
Eine Website ist also nicht barrierefrei, wenn sie Overlay-Tools einsetzt, die Nutzer*innen erst bedienen – und bedienen lernen – müssen. Barrierefrei ist eine Website nur, wenn sie auch ohne solche Zusatz-Software schon barrierefrei ist. Und werden solche Tools eingesetzt, gelten die Accessibility-Vorgaben auch für sie:
„Der Ausschuss weist darauf hin, dass Webauftritte öffentlicher Stellen nur barrierefrei sind, wenn sie die sich aus der Richtlinie (EU) 2016/2102 ergebenden Anforderungen zur Barrierefreiheit auch ohne die Verwendung von Overlay-Tools erfüllen. Wenn Webauftritte Overlay-Tools verwenden, müssen diese Tools ebenso alle gesetzlichen Anforderungen der Barrierefreiheit vollständig erfüllen.“
Außerdem warnt das Gremium vor möglichen negativen Folgen für Nutzer*innen mit Behinderungen ebenso wie für Website-Betreiber:
„Ergänzend weist der Ausschuss darauf hin, dass öffentliche Stellen, die Overlay-Tools auf ihren Webauftritten einsetzen, Gefahr laufen, dass ihre Angebote für Nutzende Assistiver Technologien nicht mehr barrierefrei zugänglich sind (Verschlechterung der Barrierefreiheit). In der Folge kann den Webauftritt-Verantwortlichen im Einzelfall zusätzlicher Aufwand und Kosten für die tatsächliche barrierefreie Gestaltung ihres Webauftrittes entstehen.“
In die gleiche Kerbe schlagen die Überwachungsstellen des Bundes und der Länder für die Barrierefreiheit von Informationstechnik. Auch sie warnen davor, dass Overlay-Tools durch Konflikte mit assistiven Technologien Websites unzugänglich für Menschen mit Beeinträchtigungen machen können. Sie kritisieren, dass die Tools oft in schlecht oder fehlerhaft umgesetzte Webauftritte integriert werden, um Barrierefreiheit zu erreichen. Das scheitert jedoch schon an strukturellen Mängeln solcher Websites, die Overlay-Tools nicht abfangen können.
Ein Grundproblem von Overlay-Tools ist, dass sie erst einmal alle möglichen Barrieren auf einer Website erkennen müssten, um sie konform zu WCAG oder BITV zu beheben. Das scheitert bereits daran, dass nur ein kleiner Teil der Barrierefreiheitsanforderungen überhaupt automatisiert geprüft werden kann.
Zunehmend werben Anbieter von Overlay-Tools damit, dass ihre Produkte Inhalte auf der Website automatisch ergänzen oder verständlicher machen können, gerne garniert mit dem Zusatz, dass ihr Tool dafür KI einsetzt. Bei allem technischen Fortschritt im Bereich der Künstlichen Intelligenz ist das beim aktuellen Stand der Technik schlicht nicht möglich.
Beim Erstellen von Alternativtexten für Bilder lassen sich eventuell Bildinhalte automatisch erkennen. Jedoch kann ein KI-Tool nicht den Zweck des Bildes und seine Bedeutung im individuellen Kontext erfassen. „Zwei Männer im Anzug stehen nebeneinander und lächeln in die Kamera“ mag sachlich richtig sein, unterschlägt aber, dass es sich dabei um Martin Luther King und John F. Kennedy bei einem Treffen im Weißen Haus handelt. Sehr oft scheitern KI-Tools bereits an der gegenständlichen Beschreibung des Abgebildeten: Ein stichprobenartiger Test von Accessibility-Expertin Casey Kreer im August 2024 mit 150 Bildern ergab, dass die KI hier in über 80 % der Fälle fehlerhafte Beschreibungen lieferte. Bei von Menschen verfassten Alternativtexten lag die Fehlerquote dagegen unter 3 %. Gerade für die Beschreibung komplexer Bilder ist menschliche Expertise gefragt.
Beim Umformulieren von Texten in Einfache oder Leichte Sprache kann generative KI helfen. In der Praxis besteht aber immer noch das Problem, dass eine KI beim Umformulieren und Zusammenfassen wichtige Details unterschlägt und damit Inhalte schlimmstenfalls ins Gegenteil verkehrt, Textinhalte fehlerhaft aufbereitet oder zusätzliche „Fakten“ einschließlich „Quellen“ erfindet. Ohne menschliche Schlussredaktion für Texte einerseits und Faktencheck andererseits geht es nicht. Bei der stärker kodifizierten Leichten Sprache ist zudem die Prüfung durch eine Kontrollgruppe aus dem Kreis der Betroffenen Vorgabe.
Ähnlich sieht es beim automatischen Erzeugen von Untertiteln und Gebärdensprache-Videos aus: Je undeutlicher oder dialektlastiger Sprecher*innen reden und je lauter Umgebungsgeräusche sind, desto fehlerhafter sind die Untertitel. Bei der Anzeige von Gebärdensprache sind die eingesetzten Avatare bisher nicht expressiv genug und werden daher schlecht verstanden.
Damit sind die propagierten Tools für automatisierte Inhaltsaufbereitung als Standalone-Lösung für Barrierefreiheit untauglich, weil sie immer einer menschlichen Überprüfung bedürfen. Und wer sich darauf verlässt, dass Overlay-Tools als Rundum-sorglos-Lösung die eigene Website barrierefrei machen, hat im Zweifel schlechte Karten.
Gerade erst hat die in den USA für Verbraucherschutz zuständige Federal Trade Commission (FTC) das Unternehmen accessiBe endgültig zur Zahlung von einer Million Dollar verdonnert: Es hatte wahrheitswidrig behauptet, dass sein Tool gesetzeskonform Barrierefreiheit herstellt. Dies gibt laufenden Klagen gegen Website-Betreiber zusätzliches Gewicht, die das Tool im Vertrauen auf dieses Werbeversprechen eingesetzt haben.
Barrierefreiheit als nachträgliche Erweiterung an eine Website anzuflanschen ist der falsche Ansatz. Er ist nicht nur teurer, er kann auch daran scheitern, dass frühere Versäumnisse das Erreichen des Ziels unmöglich machen. Barrierefreiheit muss bei einer Website ebenso wie bei einer App von Anfang an mitgedacht und mitgeplant werden.
Das beginnt bei einem Entwurf, der die Darstellung auf unterschiedlichen Geräten, Nutzereinstellungen wie Bildschirmzoom und Anforderungen wie Farbkontraste berücksichtigt. Er muss mit einer durchdachten Navigation, logischen Informationsstrukturen und semantisch korrektem HTML umgesetzt werden.
Leitlinien sind hier die Grundprinzipien der Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) – Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit. Das bedeutet: Informationen und Bedienungselemente müssen von allen Nutzer*innen wahrgenommen werden können. Und natürlich müssen sie unabhängig von den genutzten Geräten und den Fähigkeiten und Einschränkungen von Nutzer*innen – etwa motorische oder Sehbehinderungen – auch bedient werden können. Inhalte und Bedienelemente dürfen einen dabei nicht vor Rätsel stellen, sondern müssen verständlich sein. Hinter „Robustheit“ verbirgt sich, dass Inhalte unabhängig von technischen Weiterentwicklungen erreichbar bleiben müssen.
Barrierefreie Websites und Apps mit selbsterklärendem Aufbau und leicht verständlichen Inhalten sind auch für Nutzer*innen ohne Einschränkungen hilfreich. Zur höheren Nutzerfreundlichkeit kommt die bessere Auffindbarkeit dazu: Maßnahmen für Barrierefreiheit und für Suchmaschinenoptimierung sind zu etwa 80 % deckungsgleich. Ist die Barrierefreiheit von Anfang an berücksichtigt, lassen sich auch Erweiterungen und Zusatzfunktionen mit weniger Aufwand barrierefrei integrieren. Und nicht zuletzt: Barrierefreie Strukturen und Inhalte lassen sich bei Bedarf einfacher auf neue Plattformen migrieren oder an neue Standards anpassen.
Mittel- und langfristig rechnet sich der höhere Aufwand zu Beginn auf jeden Fall: Strukturierter und semantisch korrekter Code ist einfacher zu warten. Zusätzlich erweitert die bessere Zugänglichkeit die Zielgruppe und Reichweite einer Website. So leben in Deutschland allein knapp 8 Millionen Menschen mit einer schweren Behinderung. Rechnet man leichtere Behinderungen mit ein, schließt man mit einer nicht barrierefreien Website oder App fast ein Drittel der potenziellen Nutzer*innen aus oder macht es ihnen unnötig schwer. Ein Overlay-Tool hingegen kostet zusätzliche Monatsgebühren – und verringert das Risiko von Klagen wegen Barrierefreiheits-Verstößen im Vergleich zu einer tatsächlich barrierefreien Website nur bedingt.