Vor kurzem sorgte das Projekt „Atlas digitale Barrierefreiheit“ für Schlagzeilen: Von angeblich rund 11.000 dafür untersuchten kommunalen Websites bestanden demnach nur drei Prozent den Test auf Barrierefreiheit. Barrierefreiheits-Expert*innen kritisieren jedoch die Ergebnisse ebenso wie den Ansatz des Projekts. Kommunen, die hier gut abgeschnitten haben, wiegen sich unter Umständen in falscher Sicherheit: Laut des Atlasses lässt sich eine Website per Overlay-Lösung automatisch barrierefrei machen – im Widerspruch zur Fachmeinung. Währenddessen laufen in den USA die ersten Schadenersatzklagen gegen Overlay-Anbieter.
In einem Punkt liegt der „Atlas digitale Barrierefreiheit“ richtig: Viele kommunale Online-Angebote in Deutschland sind nicht ausreichend barrierefrei – und das, obwohl sie das bereits seit 2016 sein müssten. Allerdings kommt der Atlas zu diesem Ergebnis durch Tests, die mit den gültigen Vorgaben und Anforderungen nicht viel zu tun haben. Das führt zu einem stark verzerrten Gesamtbild: Tatsächlich barrierefreie Websites sind im Test durchgefallen, während andere Barrierefreiheit vortäuschen und damit gut abschneiden.
In Deutschland sind die Anforderungen an barrierefreie Websites und Apps schon seit längerem klar geregelt. Die Barrierefreie Informationstechnik-Verordnung (BITV) basiert auf der EU-Richtlinie (EU) 2016/2102 und der zugehörigen Norm. Maßgeblich sind dabei die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) des World Wide Web Consortiums.
Der Verein Inclusion Technology Lab als Initiator des Projekts hat diese oft sehr detaillierten Vorgaben – die WCAG 2.2 hat rund 100 Prüfkriterien – nicht berücksichtigt. Stattdessen hat er seinen Test auf fünf Fragen beschränkt, die nach seinen Angaben in einem Workshop mit behinderten Menschen erarbeitet und dann manuell überprüft wurden.
Die Fragen lauteten:
Pro Frage gab es entweder einen oder keinen Punkt, maximal konnte eine kommunale Website also fünf Punkte erreichen. Von den behaupteten 11.000 Auftritten – tatsächlich geprüft wurden nach Recherchen von Netzpolitik rund 7.000 – haben nach Angaben von Inclusion Technology Lab nur drei Prozent die Höchstpunktzahl erreicht, sieben Prozent sind mit null Punkten komplett durchgefallen.
Der Gesamtdurchschnitt lag bei weniger als zwei Punkten. Nach Schulnoten wäre das eine 4- für die deutschen Kommunen. Das ist eine medienwirksame Aussage – aber wie realistisch ist dieses Ergebnis?
Schon die erste Frage „Kann die Schriftgröße verändert werden?“ führt in die Irre: Tatsächlich geprüft wurde offenbar nicht, ob die Schriftgröße verändert werden kann, sondern ob es auf der Website einen oder mehrere Knöpfe dafür gibt. Solche Buttons zur Veränderung der Schriftgröße sind aber aus gutem Grund gar keine Anforderung an die Barrierefreiheit. Sie sind ein jahrzehntealtes Relikt aus einer Zeit, als noch nicht alle Browser Text auf Webseiten zoomen konnten.
Bereits vor über 15 Jahren kam die Aktion Mensch in ihrem „Einfach für alle“-Laborbericht Nummer 6 zu dem Schluss, dass solche Buttons nicht nur überflüssig, sondern gefährlich sind: „Die Widgets helfen also nicht bei der Lösung des Problems, sondern führen den Nutzer effektiv weiter von einer echten Problemlösung fort, indem sie an den Symptomen herumdoktern, statt die Ursachen zu beheben.“ Deshalb lehnen Accessibility-Expert*innen seit geraumer Zeit den Einbau solcher Buttons ab.
Die Frage „Gibt es eine Vorlesefunktion?“ hat ebenfalls keine Grundlage in den BITV- und WCAG-Anforderungen. Eine barrierefreie Website darf assistive Technologien wie Screenreader nicht behindern, muss sich also lediglich sinnvoll vorlesen lassen können. Das lässt sich durch korrekte semantische Strukturen und Accessibility-Auszeichnungen in der Website sicherstellen. Außerdem: Aktuelle Browser können Webseiten ebenfalls direkt vorlesen.
Zudem sind solche in eine Website eingebauten Vorlesefunktionen häufig sehr rudimentär – vor allem im Vergleich zu den Navigationsmöglichkeiten und Zusatzfunktionen, die ein Screenreader bietet. Wird als Zusatzangebot eine Vorlesefunktion integriert, muss diese möglichst wenig auftragen. Auch sehbehinderte Nutzer, die sonst Screenreader benutzen, profitieren dann davon, dass sie sich schnell eine Seite vorlesen lassen können – aber nur, wenn diese Funktion nicht an anderer Stelle Hürden aufbaut.
Die Frage „Gibt es ein Angebot in leichter Sprache?“ lässt sich allenfalls als „gut gemeint“ werten. Kommunen sind derzeit nicht verpflichtet, Inhalte in Leichter Sprache anzubieten. Natürlich ist ein Angebot in Leichter Sprache bürgerfreundlich – aber es kann nicht als Grundlage genutzt werden, um Barrierefreiheit im Sinne des Gesetzes zu bewerten. Abgesehen davon: Es wäre schon viel gewonnen, wenn Behörden sich an das Prinzip der Einfachen Sprache halten würden, denn Amtsdeutsch ist eine der größten Barrieren auf kommunalen Websites.
„Wird das Thema Barrierefreiheit auf der Seite erwähnt?“ ist eine seltsame Frage: Grundsätzlich sind öffentliche Stellen schon seit Jahren verpflichtet, den aktuellen Stand der Website in einer Barrierefreiheitserklärung zu dokumentieren. Hier müssen auch vorhandene Defizite detailliert aufgeführt werden sowie geplante Maßnahmen und Termine, um diese Defizite zu beheben. Schließlich muss diese Erklärung regelmäßig aktualisiert werden. Bei dieser Frage gäbe es einen Siegpunkt aber auch schon für den Satz „Diese Website ist nicht barrierefrei und wird es auf absehbare Zeit auch nicht.“.
Die letzte Frage „Kann man in wenigen Minuten herausfinden, wo man einen Termin zur Verlängerung des Personalausweises vereinbaren kann?“ schließlich ist primär keine Frage der Barrierefreiheit. Hier geht es um Usability – eine Website, die massive Defizite bei der Barrierefreiheit hat, kann hier trotzdem punkten, wenn entsprechende Hinweise prominent platziert sind oder das Menü logisch aufgebaut ist.
Zusammengefasst:
Entsprechend negativ bewerten Fachleute den Atlas digitale Barrierefreiheit. Domingos de Oliveira von netz-barrierefrei.de kommt zum Fazit:
„Diese Erhebung ist ein Beispiel für Junk-Studien in der digitalen Barrierefreiheit. Sie ist auf Kommunikation der Ergebnisse ausgelegt und eine verkappte PR-Kampagne für die durchführende Einrichtung. Es ist wohl kein Zufall, dass drei der fünf geprüften Fragen durch Overlays bedient werden können.“
Accessibility-Expertin Casey Kreer warnt auf Netzpolitik vor den möglichen Folgen:
„Akteure im Bereich der digitalen Barrierefreiheit befürchten, dass die Kommunen das Thema wegen der schlichten Prüfungskriterien auch weiterhin oberflächlich behandeln werden, anstatt für umfassende Barrierefreiheit und echte Teilhabemöglichkeiten zu sorgen.
Tatsächlich ist zu befürchten, dass die Behörden in Zukunft verstärkt auf automatisierte Lösungen wie ‚DigiAccess‘ oder ‚EyeAble‘ setzen werden, wie es beispielsweise auch die mit fünf von fünf Punkten bewertete Stadt Kiel tut.“
Accessibility-Overlays sind verführerisch: Sie lassen sich ohne großen Aufwand implementieren, und häufig versprechen Anbieter solcher Lösungen, dass damit eine Website automatisch barrierefrei wird. In der Realität schaffen dagegen solche Plugins oft zusätzliche Probleme – und Website-Betreiber begeben sich in ein juristisches Minenfeld.
Das zeigt ein aktueller Fall aus den USA: Eine Hautarzt-Praxis in New York hatte sich darauf verlassen, dass ihre Website durch das Tool AccessiBe barrierefrei entsprechend den Vorgaben des Americans with Disabilities Act (ADA) war. Das war nicht der Fall, und die Praxis wurde angezeigt. Sie verklagt nun ihrerseits den Overlay-Anbieter. Andere Betroffene können sich der Sammelklage anschließen.
Ursache der juristischen Auseinandersetzung ist das grundlegende Problem solcher Overlay-Lösungen: Kein Plugin kann Defizite beheben wie fehlerhafte Strukturen, fehlende Überschriften, fehlende oder falsche alt-Attribute sowie fehlende Accessibility-Auszeichnungen für Abkürzungen oder Sprachwechsel. Auch die fehlende Barrierefreiheitserklärung und die fehlende Feedback-Möglichkeit auf WCAG-Level AAA kann ein Plugin nicht herbeizaubern.
Deshalb sind Plugins dieser Art nach Meinung von Experten, Fachstellen und Betroffenen ungeeignet, Barrierefreiheit zu garantieren. Sie können
Dies spiegelt sich in offiziellen Stellungnahmen wider:
„Accessibility Overlays sind nach dem heutigen Stand der Technik nicht in der Lage, eine Webseite von außen und quasi auf Knopfdruck gemäß der geltenden Standards barrierefrei zu gestalten. Sie versagen insbesondere im Bereich der Zugänglichkeit für blinde Menschen.“
(Fachausschuss für Informations- und Telekommunikationssysteme (FIT) beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV))
„Aktuell sind Overlay-Tools nicht in der Lage, einen Webauftritt, der Barrieren aufweist, komplett barrierefrei darzustellen. Häufig kommt es vor, dass durch den Einsatz solcher Tools weitere Barrieren im Webauftritt entstehen, die ohne das Tool gar nicht existiert hätten. Gemäß den gesetzlichen Verpflichtungen muss es für Menschen mit Beeinträchtigungen ohne besondere Erschwernis und in allgemein üblicher Weise möglich sein, das Overlay-Tool so zu nutzen, dass die Barrieren wie von der Funktion beschrieben, tatsächlich auch beseitigt werden und keine negativen Wechselwirkungen entstehen.“
(Gemeinsame Einschätzung der Überwachungsstellen des Bundes und der Länder für die Barrierefreiheit von Informationstechnik zum Einsatz von Overlay-Tools)
„Overlays machen die Website nicht zugänglich und entsprechen nicht den europäischen Rechtsvorschriften zur Barrierefreiheit.“
(Gemeinsame Erklärung des Europäischen Behindertenforums EDF und des Internationalen Verbands der Fachleute für Barrierefreiheit IAAPO)