Es war einmal, kurz vor Weihnachten, in einer kleinen, schneebedeckten Stadt. Bei jedem Schritt knirschte die weiße Pracht, die Fenster leuchteten im warmen Schein der Lichter, der Duft von Tannen lag in der Luft, und aus den Wirtshäusern erklangen fröhliche Melodien. Gar nicht fröhlich gestimmt hingegen war der Schreiner Martin. Er saß in seiner Werkstatt an der Hobelbank und dachte lange nach.
Vor einigen Wochen war sein Vater gestorben. Martin hatte zwar die Werkstatt geerbt, aber er musste nun alles allein machen, ohne den gütigen Alten, den er sehr vermisste. Martins Vater war bekannt dafür, alte Möbel mit geschickten Händen in wahre Kunstwerke zu verwandeln. Doch würden die Kunden auch zu ihm, dem Sohn kommen?
Da klingelte es an der Tür. Martin hörte ein leises Schimpfen und musste lachen. Es war sein alter Freund, der Holzfäller Toni. Der konnte seinen Beruf schon seit einem Jahr nicht mehr ausüben: Seitdem er mit dem Holzschlitten gegen einen Baum gefahren war, saß er im Rollstuhl. Doch Toni hatte ein sonniges Gemüt und nahm noch die schwersten Schicksalsschläge mit einem Schulterzucken und einem heiteren „Solang’s Herz noch mitmacht!“ an.
Als Martin die Tür öffnete, sah Toni allerdings gar nicht heiter aus: „Du, deine neue Rampe zur Werkstatt ist ja eine super Idee – aber so ist die lebensgefährlich!“ Tatsächlich hatte sich unter der Last des Schnees ein Teil des Feuerholzstapels selbstständig gemacht. Die Scheite waren auf die Straße gerutscht und sahen unter dem Schnee wirklich aus wie eine Rollstuhlrampe – auf der Toni jetzt weder vor noch zurückkonnte.
Schnell half Martin seinem Freund in die Werkstatt, wo sie ein Bierchen auf den Schock tranken. Toni bemerkte Martins trübe Stimmung und fragte ihn, was denn los sei. Da erzählte Martin von seinen Sorgen. Toni wurde nachdenklich. Schließlich kam ihm eine Idee. „Du, was wäre denn, wenn du wirklich eine Rampe draußen bauen würdest? Du könntest auch Markierungen in den Boden setzen, damit Leute wie die blinde Martha sicher hier hereinkommen.“
Die Ideen sprudelten jetzt aus Toni heraus. „Niemand denkt hier an die Leut‘, die halt ein bisschen eingeschränkt sind. Aber sind das nicht auch Kunden, die eine gemütliche Eckbank wollen? Du und dein Vater habt mir diesen Rollstuhl gebaut, der Martha hast den Stock geschnitzt, als du noch ein kleiner Bub warst. Du kennst doch die Sorgen der Leut‘.“
Gesagt, getan: Die beiden Freunde bauten noch in derselben Nacht eine richtige Rampe. Den ganzen nächsten Tag waren sie dann damit beschäftigt, die Werkstatt zugänglicher und freundlicher zu machen. Nach harter Arbeit und einer Nacht ohne Schlaf fiel Martin am Ende des Tages zufrieden, aber erschöpft in sein Bett. „Die Werkstatt schaut schon besser aus – eine schöne Website, das wär’s jetzt …“ – aber da war er schon eingeschlummert.
Im Traum wollte er sich eine Website basteln. Doch jedes Mal, wenn er dachte, er sei fertig, wenn er gerade das letzte Element hinzufügen und auf „speichern“ klicken wollte, flog das ganze Ding auseinander. Es war zum Haareraufen: Es ging und ging und ging einfach nicht zusammen. Martin wollte das ganze Glump schon zum Fenster rausschmeißen und war dabei, das Tablet zu packen und aufzustehen – als er eine schwere Hand auf seiner Schulter bemerkte.
Die Hand war etwas kalt, so als ob sie gerade von draußen reinkam: Hinter Martin stand sein Vater. Er sah aus wie immer, den Lederschurz umgebunden, einen Bleistift hinter dem Ohr. Nur hatte er jetzt eine rote Zipfelmütze mit weißen Fellverzierungen auf dem Kopf. Martin schaute völlig verdattert, aber der Alte lächelte nur und sagte: „Komm mit, Bub.“
Doch anstatt voranzugehen, blieb der alte stehen. Es bewegten sich nicht Martin und sein Vater – sondern die Werkstatt. Die Decken und Wände schoben sich immer weiter von den beiden weg, bis sie eine riesige Halle bildeten. Überall standen plötzlich Werkbänke in langen Reihen. Emsig werkelten dort Handwerker. Martin sah Schreiner, Instrumentenbauer, Kalligraphen – in einer Ecke standen Schmiede und hämmerten, dass die Funken stoben. Martin sah seinen Vater fragend an. Der hob nur entschuldigend die Hände und sagte: „Naja, die Ewigkeit ist mir schon nach zwei Wochen ganz schön fad geworden. Da habe ich mir eben etwas zu tun gesucht – und der Nikolo hatte noch Positionen als Schreiner offen.“
„Der Nikolo?“, fragte Martin mit vor Staunen aufgerissenen Augen. „Also wirklich der … ?“ „Ja, der“, ertönte ein dröhnender Bass so mächtig hinter Martin, dass dieser unwillkürlich zusammenzuckte. Etwas ängstlich drehte sich Martin um. Doch da stand nur ein kleiner Mann mit einem mächtigen Bauch und einem weißen Rauschebart. Statt Bischofshut trug er ein Käppi mit der Aufschrift „Weihnachtsmann 1.0 – das Original“. Unter der Kappe blitzten hellwache, aber freundliche Augen hervor. Er streckte Martin die Hand hin und stellte sich knapp vor: „Servus! Klaus.“
„M … Martin?“, stotterte Martin leicht fragend. „Ja, so heißt du. Hast du gut herausgefunden.“ Martin war sprachlos. Klaus schaute mit hochgezogenen Augenbrauen an ihm vorbei und Martins Vater an. „Das Reden habe ich ihm eigentlich beigebracht“, lachte der. Martin wurde rot. „Ah, rot mag ich“, stellte Klaus fest und gab dem immer noch verdatterten Martin einen kräftigen Schlag auf die Schulter. Die beiden Alten kicherten, als ob ihnen ein gutgeölter Witz gelungen war, den nur sie verstanden.
„Komm mit, Bub“, befahl nun Klaus und die drei setzten sich im Gänsemarsch in Bewegung: Vorne Klaus, dahinter Martin, danach sein Vater. Auf dem Weg durch die Werkstatt hämmerte, dengelte, dampfte und sägte es von allen Seiten. Sah man zu Beginn noch Steinmetze und Leimsieder am Werk, wurden die Werkbänke und Werkzeuge von Reihe zu Reihe moderner. Elektriker löteten an Schaltkreisen herum, Mechaniker zerspanten ein Werkstück in einer großen Fräsmaschine.
Während all der Zeit redete Klaus wie ein Wasserfall: „Die ganze Unternehmung hier könnte man als ,historisch gewachsen‘ bezeichnen. Wir haben für jedes neue Gewerk einfach eine neue Reihe aufgemacht und die Halle immer wieder erweitert. Hier produzieren wir all die Spielzeuge für Weihnachten.“ Martin staunte nicht schlecht: Die Halle musste kilometerlang sein. Erst ganz, ganz langsam kam die hintere Wand in Sicht.
„So, wir sind da“, stellte Klaus fest und stoppte in der letzten Reihe. „Hier sind meine Digitalwerker.“ Martin sah verstellbare Schreibtische und viele Bildschirme. Darauf liefen Grafikprogramme und Code-Zeilen. Einige Mitarbeiter hier trugen Metal-Shirts und seltsame Pullover mit Weihnachtsmotiven. Andere waren sehr schick angezogen. Gemeinsam war ihnen nur die rote Mütze mit dem weißen Bommel, die auch Martins Vater trug. „Das gehört zur Corporate Identity. Betriebskleidung, sozusagen. Hat sich das Christkind ausgedacht, der macht bei uns das Marketing“, erklärte Klaus die Mützen.
Die meisten starrten wie gebannt in ihre Bildschirme. Nur drei Frauen schauten direkt Martin an, als ob sie ihn bereits erwarteten. Sie standen auf und begrüßten ihn. „Das sind Barbara, Inge und Vera“, stellte Klaus sie vor. „Sie wollen dir deinen Website-Entwurf vorstellen.“
Das taten sie – lange. Sie erklärten Martin genau und mit Engelsgeduld alle Aspekte des Entwurfs. Die Website, sie sah so schick aus, so aufgeräumt. Alles war gut zu lesen, die Struktur war logisch, die Seiten luden flott. Es sah so einfach aus. Warum war Martin dann mit jedem seiner Website-Versuche auf so frustrierende Art und Weise gescheitert? Martin fiel wieder ein, wie ihm die Website immer und immer wieder zersprang. Er hatte in verschiedenen Foren etwas dazu gelesen und einige Begriffe aufgeschnappt, verstand aber deren Sinn nicht. Die Fragen sprudelten darum geradezu aus ihm heraus: „Warum sind Kontraste so wichtig? Wieso kommt es so stark auf die Textstruktur an? Warum brauchen Bilder diese ‚Alternativtexte‘?“
Die drei sahen Klaus an, der wiederum Martins Vater. Der hob an: „Naja, Bub, du hast doch deine ganze Werkstatt auf Vordermann gebracht. Jeder kann jetzt ganz einfach zu dir kommen, egal, ob die Person beeinträchtigt ist, oder nicht. Deine Website, das habe ich auch erst hier verstanden, die soll genauso für jeden zugänglich sein.“
Inge übernahm: „Unerlässlich ist Barrierefreiheit für 10 Prozent der User*innen, notwendig für 30 Prozent, hilfreich ist sie für 100 Prozent.“ „User*innen sind die Nutzer*innen“, warf Barbara zur Erklärung ein. Und Martin verstand langsam: „Starke Kontraste helfen Menschen mit Farbschwäche …“, begann er, „… während Menschen, die allgemein sehr schlecht sehen, sich die Seite vorlesen lassen müssen“, ergänzte Inge. Vera führte die Erklärung fort: „Damit ein Vorleseprogramm aber richtig funktionieren kann, ist es wichtig, dass der Text auch tatsächlich als Text auf der Seite steht, sinnvoll aufgebaut ist und so ausgezeichnet, dass er in der richtigen Sprache vorgelesen wird. Dann kann der Text von entsprechenden Programmen ordentlich vorgelesen werden. Das hilft auch Menschen ohne Beeinträchtigung. Wenn du im Auto sitzt und ein Restaurant suchst, kannst du dir eine so gepflegte Speisekarte einfach vorlesen lassen.“
Eine Rampe mit Geländer, Markierungen auf dem Boden, Türen mit Bewegungsmelder: All das gab es also auch in digital für den Auftritt im Internet! „So biete ich meinen Kunden also möglichst hohen Komfort“, erkannte Martin. „Und genau das wird sich herumsprechen. So läuft es im Netz: Eine barrierefrei gepflegte Website ist auch eine, bei der die SEO stimmt“, warf Klaus ein. „Die wird auf Suchmaschinen besser gefunden“, schob Inge zur Erklärung hinterher.
Martin war jetzt vollends überzeugt: Er wollte nicht nur einen Laden, sondern auch einen digitalen Auftritt, der alle einlädt. „Aber was kostet das?“, wollte er wissen. „Weihnachten ist das Fest der Gemeinschaft. Du hast dir selbst in einem Moment größter Sorgen noch Gedanken über die Andere gemacht. Wir schenken dir die Seite. Sieh es als … Spielzeug“, sagte Klaus. Martin musste lachen. „Danke, aber Spielzeuge gehören doch den Kindern. Ich bin ja kein Kind mehr.“
„Du bist immer noch mein Kind.“ Martins Vater lächelte traurig und fuhr fort: „Dass du die Werkstatt weiterführst, dass du an mich denkst und an andere – das ist mir das größte Geschenk.“ Hatte Martin nicht gerade eine kleine Träne der Rührung im Augenwinkel des Alten gesehen? Eine Welle an Liebe erfasste ihn. Er umarmte seinen Vater, wollte ihm sagen, wie sehr er ihm fehlte – doch genau da wachte er auf.
Ein seltsamer Traum, dachte Martin, während er sich einen Kaffee machen. Von der Couch im Pausenraum hörte er ein gleichmäßiges Schnarchen. „Toni mache ich vielleicht auch gleich einen Kaffee“, dachte er. Geistesabwesend scrollte er durch sein Smartphone. Eine E-Mail kam an. Ah. Nur ein Weihnachtsnewsletter, das ist nicht so – er stutzte. Da stand: „Wir beglückwünschen Sie zum Live-Gang Ihrer neuen Website.“ Er hatte gar nichts in Auftrag gegeben. Aber die Adresse der Digitalagentur schien in Ordnung zu sein. Er googelte sie. Unter der Rubrik „Onlinegänge“ fand er viele Websites, die die Agentur offensichtlich gemacht hatte. Die Letzte, ganz oben, schien tatsächlich seine eigene zu sein.
Martin klickte drauf – und sah die Website seiner Träume. Erstarrt stand er da. „Ist der Kaffee für mich?“ schepperte Toni plötzlich durch den Raum und ließ Martin zusammenzucken. Beim Frühstück betrachteten sie gemeinsam die neue Website und staunten nicht schlecht: Sogar ein einfach zu bedienendes Shopsystem war dabei.
Nach einer Weile wollte sich Toni auf den Nachhauseweg machen, als Martins Blick auf ein Bild fiel, das seinen Vater zeigte – gemeinsam mit ihm, Toni und dessen Vater. „Du, Toni, du kannst jetzt noch nicht heim“, sagte Martin und lächelte schelmisch. Toni verstand erst nicht, dann dämmerte es ihm langsam: „Du hast völlig recht. Wir sperren schließlich in einer halben Stunde auf.“ Die Rampe, eine höhenverstellbare Werkbank: Mehr brauchte Toni nicht. Im Umgang mit Holz war er als ehemaliger Holzfäller ohnehin geschickt. So arbeiten die beiden Freunde seit diesem Tag gemeinsam in der Schreinerei – und wenn sie nicht gestorben sind, dann können sie sich bis zum heutigen Tag nicht vor Kunden retten.